Interview zum Läuferzehnkampf
1. Geschichte des Läuferzehnkampfes: Wann, wo und v.a. warum (als Ergänzung zum "normalen" Zehnkampf, als extreme Trainingsform?) wurde dieser Event ins Leben gerufen?
Der Wiener Berufsschullehrer Dr. Wilhelm Fischer († 2001) hatte 1982 den Läuferzehnkampf als "Trainingsauflockerung" ins Leben gerufen. Es sollte einfach der vielseitigste Läufer ermittelt werden. Anfangs bestand das Teilnehmer hauptsächlich aus Berufsschülern und Berufsschullehrern.
Bis 1990 fand der Läuferzehnkampf immer in Wien in verschiedenen Stadien statt. 1990 wurde die Veranstaltung dann erstmals international ausgeschrieben. Seitdem wechselt der Veranstaltungsort zwischen Österreich und Deutschland. 2008 wurde der Läuferzehnkampf zum ersten Mal in der Schweiz ausgetragen. 2010 oder 2011 kommt die Tschechische Republik hinzu.
Die Reihenfolge der Läufe ist bis heute gleich geblieben: 1. Tag 60 - 1.500 - 400 m, 2. Tag 100 - 3.000 - 800 m, 3. Tag 200 - 5.000 - 1.000 m, 4. Tag 10.000 m. Auch die Laufeinteilung hat sich nicht geändert: Für den ersten Tag muss man seine aktuellen Bestzeiten angeben und wird danach in die Läufe eingeteilt. Ab dem zweiten Tag werden die Läufe anhand der Leistungen der entsprechenden Strecke vom Vortag gesetzt. Das Alter spielt dabei keine Rolle. Es kann durchaus vorkommen, das zwischen dem Jüngsten und dem Ältesten eines Laufes 60 Jahre liegen.
2. Sehe ich das richtig, dass der jüngste Teilnehmer erst 11 Jahre alt ist? Ist das nicht ein wenig übertrieben, einen C-Schüler 22.060 Meter in 4 Tagen laufen zu lassen?
Es ist nicht üblich, dass Kinder am Läuferzehnkampf teilnehmen. Die meisten Veranstalter setzen ein Mindestalter von 14 Jahren an. Diese Beschränkung gibt es in diesem Jahr nicht und das aus gutem Grund: Bei den bisherigen 25 Läuferzehnkämpfen nahmen 48 Kinder unter 14 Jahren erfolgreich teil. Davon kamen 37 vom Saalfelder LV, dem diesjährigen Veranstalter.
Der Saalfelder LV leistet seit Jahren eine hervorragende und besonders nachhaltige Nachwuchsarbeit. Viele der damaligen Kinder starten jetzt in der M20 bzw. W20. Die jüngste Teilnehmerin überhaupt war 1995 Anna Behning mit 10 Jahren. Sie tritt dieses Jahr zum 10. Mal an (2 x Dritte in der Gesamtwertung). Linda Zedler (dieses Jahr leider nicht dabei), war bei ihrem ersten L10K 12 Jahre, hat bisher 12 Mal teilgenommen und hat 2005 sowie 2007 die Gesamtwertung der Frauen gewonnen. Jeanette Müller startete ebenfalls mit 12 Jahren zum ersten Mal, gewann 2008 die Gesamtwertung und ist dieses Jahr zum 9. Mal dabei.
In den meisten Fällen waren die Kinder absolute Ausnahmetalente, die die Belastung möglicherweise besser weggesteckt haben als mancher Erwachsener. Dustin Pfaff lief mit 12 Jahren 44:47 min über die abschließenden 10.000 m, die Zeit ist für ihn heute noch (L10K-)Bestzeit. Anna Behning wurde mit 12 Jahren Siebente in der Gesamtwertung der Frauen, Linda Zedler ebenfalls mit 12 zehnte. Ich denke, der Saalfelder LV hat auch in diesem Jahr seine teilnehmenden Schüler verantwortungsbewusst ausgewählt.
3. Schaut man sich die Startliste und die Liste der bisherigen Sieger und Austragungsorte an, so fällt auf, dass besonders viele Teilnehmer aus dem Osten Deutschlands stammen. Wie erklären Sie sich die Popularität des Events in den neuen Bundesländern?
1990 (die Grenze war bereits offen, aber die DDR existierte noch) setzte Wilhelm Fischer für den ersten internationalen Läuferzehnkampf eine Annonce im "Leichtathlet", dem Leichtathletik-Magazin der DDR schlecht hin. "Spitzen- und Hobbyläufer willkommen" war darin zu Lesen. Davon gab es in der DDR reichlich. Von 137 Starter kamen 55 aus der DDR, aber nur einer aus der BRD. Damit war der Grundstein gelegt. Da so eine kleine Veranstaltung vom Weitersagen lebt, hat sich somit eine "Ost-Hochburg" entwickelt. Die Veranstalter waren meist selbst Teilnehmer, die dann die Verantwortung übernommen haben.
Übrigens: Heidrun Müller vom Saalfelder LV war bereits 1990 dabei und tritt in diesem Jahr zum 19. Mal beim Läuferzehnkampf an. Frank Burmeister, der Cheforganisator in diesem Jahr, war ebenfalls 1990 dabei und dann noch weitere 11 Mal. Der Saalfelder LV war seit 1990 in jedem Jahr der Verein mit den meisten Teilnehmern.
4. Sie sind selbst Teilnehmer der diesjährigen Veranstaltung. Was finden Sie persönlich am schwierigsten, das Sprinten oder die längeren Strecken? Was glauben Sie (bzw. wissen Sie aus persönlichen Gesprächen mit anderen Startern), wie es in dieser Frage den anderen Teilnehmern ergeht?
Ich persönlich habe Schwierigkeiten mit den Mittelstrecken (800 m, 1.000 m, 1.5000 m). Alles darunter (einschließlich 400 m) macht Spaß und alles darüber auch (solange es nicht zu heiß ist). Ausgesprochene Sprinter haben mit den langen Strecken Probleme. Langstreckenläufer kommen mit den Sprints nicht zurecht, nicht letzt, weil für sie dort ein hohes Verletzungsrisiko besteht. Wahrscheinlich ist die Stadionrunde über 400 m die unbeliebteste Strecke.
5. Wie bereitet man sich am Sinnvollsten auf einen Läuferzehnkampf mit seinen ganz verschiedenen Belastungen (Hochgeschwindigkeit vs. Ausdauer) vor?
Es gibt keine generelle Strategie. Die Spitzenläufer trainieren sicher anders als die Freizeitläufer, Sprinter trainieren anders als Langstreckenläufer. Zudem kommt es darauf an, welches Ziel man sich selbst steckt und welche Bedeutung der Läuferzehnkampf hat: Ist der Höhepunkt des Jahres oder ist es ein "Trainingslager mit Wettkampfcharakter", läuft man aus Spaß mit oder will man an der Spitze mitmischen.
Ich bin eher "Spitzenläufer des letzten Drittels", ich nehme also nur aus Spaß am Laufen teil. Für die Sprints trainiere ich im Stadion, hauptsächlich den Start. Die Mittelstrecken trainiere ich lieber in der Natur, wo man nicht bei jedem Schritt beobachtet wird und die Ausdauer hole ich mir auf dem Fahrrad.
6. Und überhaupt: Warum tut man sich diese Strapazen an? Warum nicht z.B. einfach ein ganz normaler Volkslauf?
Zum ersten Läuferzehnkampf wird man im Allgemeinen von Sportfreunden überredet oder man findet zufällig Informationen über den Läuferzehnkampf. Dann sagt man: "Okay, das ist mal was anderes, das probiere ich." Das erste Mal ist meistens eine ziemliche Strapaze. Aber im Laufe der vier Tage gehört man zur "Familie", lernt die Leute kennen, wird angefeuert, feuert mit an. Das ist einfach eine ganz andere Stimmung als bei Volksläufen.
Bei Volksläufen trifft man sich (vielleicht) am Start, ein kurzes "Hallo! Wie gehts" "Ach, es geht so", läuft los und trifft sich im Ziel (vielleicht) wieder. Auch wieder ein kurzes "Und wie lief es?" "Ach, es ging so." Mehr ist nicht. Beim Läuferzehnkampf macht man sich 10 Mal warm, läuft sich 10 Mal aus, hat Pausen, hat Wettkämpfe (durch die Laufeinteilung startet man häufig gegen dieselben Leute). Dabei kommt man automatisch ins Gespräch, man hat plötzlich keine Gegner mehr, sondern Freunde. Für viele ist genau diese familiäre Atmosphäre der Grund zum Wiederkommen. Es kommen sogar ehemalige Teilnehmer angereist, um einfach als Zuschauer weiter dabei zu sein.
7. Im Sprint läuft jeder volles Tempo, während auf den längeren Distanzen auch die Taktik und die Rennsituation eine wichtige Rolle spielt. Ist dies ein Vorteil für diejenigen Teilnehmer mit den besseren Sprintbestzeiten?
Bis 2006 waren die Sprinter durch das Punktsystem im Vorteil. Was man bei den Sprints verloren hatte, konnte man nicht wieder aufholen. So konnte zum Beispiel 2003 Petra Rappe aus München als absolute Sprinterin mit vier Streckensiegen (60 bis 400 m) gegen die Mittel- und Langstreckenläuferin Sonja Grünke aus Annaberg mit sechs Einzelsiegen gewinnen. Über 10.000 m war Sonja über 5 Minuten schneller als Petra.
Jetzt ist das Punktsystem ausgeglichener. Wenn man jetzt auf den Sprints 1% (5%, 10% ...) langsamer ist als ein anderer, muss man auf der langen Strecke entsprechend 1% (5%, 10% ...) schneller sein, um wieder gleich zu ziehen. Man kann zwar auf den Sprints mit wenigen Zehntelsekunden viele Punkte holen, hat aber damit sein Heu nicht rein. Das musste 2007 Andreas Glück aus Wien spüren: Er führte aufgrund seiner tollen L10K-Rekorde über 100 und 200 m bis zur 9. Disziplin. Im abschließenden 10.000-m-Lauf musste er trotz persönlicher Bestleistung fast um Platz drei bangen.
8. Die Punktewertung ist keine offizielle Wertung des Leichtathletik-Weltverbandes, sondern wurde selbständig ausgetüftelt (von wem?). Wie schwer war die Erstellung der Wertung – weil man ja irgendwie doch Birnen mit Äpfeln vergleichen muss.
Bis 2006 hieß die Punktewertung "Offizielle Mehrkampftabelle des DLV". Die hatte aber noch niemand gesehen. Es gibt Formeln für die Mehrkämpfe, mit denen kam man aber nicht auf L10K-Punkte. Verschiedene Untersuchungen hatten ergeben, dass diese Punkte nicht durch eine Formel berechnet werden, sondern aus einer manuellen Zuordnung von Punkten zu Zeiten ermittelt wurden. Möglicherweise war das in den 80er Jahren sogar die internationale Mehrkampf-Wertung.
2007 wurde zum ersten Mal ein neues Punktsystem eingesetzt, das aus meiner Feder stammt. Mit der "zündenden Idee" und dem Wissen über die Mehrkampfformeln, war das eigentliche Punktsystem mit seinen Parametern innerhalb eines Wochenendes entstanden. Vorher mussten die Daten aller Läuferzehnkämpfe, die mir zum Glück zur Verfügung standen, in eine Datenbank gebracht werden. Dann folgte die Datenanalyse. Dabei ist mir eine interessante Gleichheit aufgefallen: Die langsamste Zeit war auf allen Strecken bei Männern und Frauen immer ungefähr (damaliger) Streckenrekord mal zwei. Darauf baut auch das neue System auf.
Schwieriger war es dann, der "Welt" zu beweisen, dass dieses System tatsächlich besser ist als das alte. Das hätte gut und gern eine Diplomarbeit sein können. Der Aufwand war aber nötig, da 2005 in Potsdam bereits ein Versuch eines neuen Punktsystems gestartet wurde. Dort passte aber nichts zusammen. Selbst vergleichbare Strecken wie 3.000 m und 5.000 m ergaben unverhältnismäßige Ergebnisse. Das gipfelte darin, dass Olaf Beyer (Europameister von 1978 über 800 m) als Gesamtleiter in der letzten Nacht die Punkte wieder ins alte System gebracht hat.
Die komplette Ausarbeitung zum Punktsystem kann auf http://www.laeuferzehnkampf.de/ unter "Punktsystem" nachgelesen werden. Dort gibt es auch einen Punktrechner.
9. Noch eine Frage zur Wertung: Muss man alle Strecken erfolgreich beenden, um in die Wertung zu gelangen?
Man muss an allen Strecken teilnehmen, um in der Zehnkampf-Wertung zu bleiben. Es ist aber möglich, Strecken abzubrechen. Dann bekommt man 0 Punkte, bleibt aber in der Zehnkampf-Wertung. Eine Strecke ist erfolgreich beendet, wenn man ins Ziel kommt. Dafür gibt es mindestens einen Punkt.
Uwe Warmuth (Fragen: Philipp Häfner), 14.05.2009